Sir John Eliot Gardiner

Georg Friedrich Händel aus „Hercules“
Georg Friedrich Händel aus „Hercules“

Als ich 1993 das erste Mal im Orchester von Sir John Eliot Gardiner spielen durfte, ahnte ich noch nicht, dass ich über 30 Jahre später diese traurigen Zeilen schreiben würde.

Ich ahnte aber auch noch nicht, dass ich überhaupt so lange das Privileg haben würde, in seinen Orchestern English Baroque Soloists und Orchestre Révolutionnaire et Romantique spielen zu dürfen.

Die Anzahl der besonderen Konzerte ist so zahlreich, dass ich sie hier nicht vollständig erwähnen kann und doch habe ich das Gefühl, mich an alle noch ganz genau erinnern zu können. Aufregend, berührend, aufrüttelnd, revolutionär, stimmungsvoll, perfekt, nachdenklich, zu Herzen gehend, aufwühlend, schnell, friedvoll, es gäbe so viele Worte, um zu beschreiben, wie Sir John Eliot Gardiner mit der Musik umgegangen ist, wie er Menschen zu Tränen gerührt hat, wie er seine Ideen durchzusetzen vermochte. Ich bin sehr stolz, dabei gewesen zu sein und möchte kein Projekt missen. Im Bachjahr 2000, als er die Idee einer Pilgrimage mit Bach Kantaten durch so viel kleine und große Kirchen hatte und auch durchsetzte, vertraute er mir den Posten des Stimmführers 2. Violinen an, den ich seitdem bei den English Baroque Soloists innehaben durfte. Das hieß auch, dass ich z.B. bei besonderen Monteverdi-Projekten dabei sein konnte, bei denen nur 2 Violinen gebraucht wurden. Gemeinsam mit meiner wunderbaren Kollegin und Freundin Kati Debretzeni spielten wir herrliche Musik und erlebten Projekte, die mit allen Höhen und Tiefen am Ende immer etwas bewegt haben: das Publikum, die Musik, auch uns und unsere Fähigkeiten.

Im letzten Juni gab es noch einen Höhepunkt: Filmaufnahmen in Venedig und Mantua. Ein Traum! Die Musik von Monteverdi in passenden historischen Räumen, was kann es Schöneres geben?

Dann im August kam der unakzeptable Zwischenfall, als am Ende eines anstrengenden Konzertes im überhitzten Frankreich der Sir einem Sänger eine Ohrfeige gab. Sofort war die Presse da und es ging durch alle Medien. Aber was war wirklich passiert? Der sofortige Rückzug war das Beste, was der Sir in dieser Situation machen konnte. Er ging in Behandlung und blieb allem fern. Wir bekamen andere Dirigenten und es war erstaunlich, dass das Management die geplanten Konzerte trotzdem durchführen konnte. Alle waren sehr dankbar. Doch die Zeit verging und es schien sich nichts zu bewegen, keine Informationen, wie es nun weitergehen sollte und vor allem, wann Sir John Eliot Gardiner wieder zurückkehren durfte. Und das war ja genau das, worauf wir Musiker und Chorsänger warteten. Ich bin nicht die einzige, die seine Arbeitsweise so schätzt und dadurch Konflikte bei der Probenarbeit durchaus toleriert. Es ist wie in der Musik selbst, die Spannungen müssen klar ausgearbeitet werden, damit die Entspannung, die Harmonie nach den Dissonanzen umso wirkungsvoller sein kann. Das hatte mich ja von Anfang an so begeistert, keine langweilige „Geradeausbarockmusik“, nein Drama, Verzweiflung, Trauer, Wut und dann dazwischen und am Ende immer die Erlösung, das Verzeihen, Licht und Zuversicht.

Nach dem vielen unsicheren Warten und auch Kämpfen kam nun die endgültige Mitteilung, dass Sir John Eliot Gardiner NICHT zu seinen Orchestern und seinem Chor zurückkehren wird.

BUMM! AUS! VORBEI!!! Wir alle sind noch immer im Schock und keiner kann begreifen, dass so eine unwürdige, nicht zu tolerierende, aber im Verhältnis kleine Begebenheit ein so großes Lebenswerk mit einem Schlag zerstören kann. Gibt es kein Verzeihen, kein Erbarmen? Wie oft hat Sir John Eliot Gardiner am Anfang einer Probe von den menschlichen Dingen gesprochen, von den schrecklichen Ereignissen der Welt und wie man sie vielleicht doch mit der Musik ein kleines bisschen besser und friedlicher machen könnte. Wie ein Monteverdi oder Bach in ihrer Zeit schon diese schrecklichen Kriege und Nöte erleben mussten und doch nicht aufgaben und Werke komponierten, die noch heute die Menschen anrühren. Nun bin ich zutiefst erschüttert, dass es hier keine Vergebung gibt, dass sie offensichtlich gar nicht erwünscht ist. Warum?

Ich möchte mit diesen Zeilen daran erinnern, dass die 60 Jahre seines Chores und seiner Orchester so viel in die Musikgeschichte, die Aufführungspraxis eingebracht haben, dass seine Persönlichkeit so viel angeschoben und entwickelt hat und dass er mit seinen besonderen Konzerten so vielen Menschen Freude und Trost gegeben hat, dass eine Ohrfeige in der Hitze und Erschöpfung nach dem Konzert hinter der Bühne diesen großen Erfolg nicht einfach zunichtemachen kann. Ich kann natürlich nur für mich sprechen, aber ich habe seine Wutausbrüche fast nur erlebt, wenn es um die Musik ging und er als (man könnte sagen) Workaholic sich auch mit 100 % noch nicht zufriedengeben wollte.

Ich bin extrem traurig, dass es unsere gemeinsame Arbeit so wie es war, nicht mehr geben wird. Aber ich wünsche Sir John Eliot Gardiner, dass er doch wieder in das aktive Musikleben einsteigen und noch viele Menschen mit seiner Musik aufrütteln, erfreuen und trösten kann.

Anne Schumann, August 2024

1994 nach einer Aufführung von „Don Giovanni“ in Ludwigsburg (Foto privat)
1994 nach einer Aufführung von „Don Giovanni“ in Ludwigsburg (Foto privat)


Beitrag teilen

Nach oben scrollen